Über Mary Gaitskills Roman „Die Stute“

Das Leben ist nie und nimmer ein Pony-Hof

Ich gestehe, dass meine literarische Frühentwicklung nicht vor typischer Mädchenliteratur haltmachte; Ich widmete mich als 11-Jährige vor allem dem Subgenre Pferdebuch; „Bille und Zottel“ von Rosemarie Eitzert (alias Tina Caspari) war damals (1976) die Einstiegsdroge für mich.

Um Pferdebücher habe ich danach einen weiten Bogen gemacht. Ein Subgenre „Pferde-Roman“ für Erwachsene gibt es meines Wissens auch gar nicht. 2017 erschien dann der Roman „Die Stute“ der amerikanischen Autorin Mary Gaitskill. Mich lockte der Stallgeruch und ich musste dieses Buch unbedingt lesen. Schließlich ist Mary Gaitskill eine renommierte Autorin, so dass ich keinen trivialen Pferdekitsch für den kinderreitstiefeln entwachsene Frauen zu fürchten hatte.

„Die Stute“ enttäuschte meine Erwartungen nicht. Gaitskill entwirft in ihrem Buch ein spannendes Figurenpanorama um Ginger, eine mitteljunge amerikanische Mittelstandsfrau, und Velvet, ein 11jähriges farbiges Mädchen aus den Brooklin.

Ginger, 47 Jahre alt, verheiratet und mehr oder weniger als Künstlerin erfolgreich, bewirbt sich in einem Programm, das benachteiligten Stadtkindern die Möglichkeit gibt, in ländlichen Gastfamilien ihre Ferien zu verbringen. Man weist ihr die kleine Velvet zu, die mit ihrer alleinerziehenden Mutter und mit einem jüngeren Bruder in prekären Verhältnissen lebt. Die Familie stammt aus der Dominikanischen Republik, die Mutter spricht kaum Englisch und versucht als Putzfrau ihre Kinder durchzubringen. In diesem Kampf ums bloße Überleben bleibt nicht viel Raum, um der Tochter gegenüber zärtliche Gefühle aufzubringen oder gar zu zeigen.

Im Haus von Ginger und Paul fühlt sich die Kleine wohl. Der Höhepunkt ihrer Ferien ist aber der Besuch im benachbarten Reitstall. Sie trifft dort auf eine menschscheue Stute. „Fugly Girl“ (übersetzt etwas „Potthässliches Mädchen“ nennen die Leute im Reitstall das Tier, das seine Narben an Körper und Seele trägt. „Fiery Girl“ (Feuriges Mädchen) tauft Velvet das Pferd und kann nicht davon lassen, die Stute zu betrachten und an sie zu denken.

Ginger und Velvet versuchen der Mutter die Erlaubnis für Reitstunden abzuringen. Wie im Pferderoman genretypisch entpuppt sich Velvet als begabte Reiterin und mit viel Geduld und Training kann Velvet schließlich (Achtung: Spoiler) die feurige „Fiery“ auf einem Turnier reiten.

Was nach einem trivialem Plot klingen mag, ist jedoch keineswegs banal und eindimensional. Mary Gaitskill schreibt einen vielschichtigen Coming-of-Age-Roman, über eine kleine Heldin, die mit großer Beharrlichkeit und Zähigkeit ihren Weg sucht und findet.

Gaitskill verzichtet nicht auf auf gängige Narrative: Da sind die lieblose Mutter, die den jüngeren Bruder bevorzugt; die etwas randständige Reitlehrerin; die vorbildlich verständnisvolle Mittelstandsfamilie. Ja, all diese Personen kommen vor. Gaitskill enthüllt aber all ihre Facetten und raubt ihnen damit die Klischees. Damit liest sich das Buch spannend und macht die Entwicklung keineswegs vorhersehbar.

Um den unterschiedlichen Akteuren Raum und Stimme zu geben, entscheidet sich die Autorin dazu, die Handlung aus den jeweiligen Perspektiven von Velvet und Ginger zu erzählen. Diese Erzählstrategie übt auf mich beim Lesen einen großen Charme aus. Gaitskill jongliert kunstvoll mit den verschiedenen Erzählstimmen, so dass sich der Leser / die Leserin die Handlung Stück für Stück erschließen kann.

Velvet gibt ihren Blick auf die vertraute und die neue und geheimnisvolle Welt in einer unverfälschten Sprache wieder. Das liest sich frisch, authentisch und fesselnd. Wohltuend ist, dass Gaitskill sich im Stil nicht einer vermeintlichen Jugendsprache anbiedert, sondern Velvets unverstellten Blick in eine literarische Sprache verpackt.

Im Kontrast zu Velvets Unbefangenheit steht Gingers ständig selbstreflektierende Sicht auf die Welt:

„Das Problem war, dass andere Leute wie Störsender wirkten. Es war schwierig für mich gewesen, mit ihnen befreundet zu sein und zugleich das Signal zu hören. Das klingt seltsam, ich weiß. Aber ich bin seltsam.“

Die permanente Selbstflexion Gingers gleitet nie ins Lächerliche, Parodistische ab. Man merkt, das Gaitskill all ihren Figuren im wahrsten Wortsinne gerecht werden will. Ja, Ginger leidet in ihrer Selbstbezogenheit unter Problemen, die für eine Frau wie Velvets Mutter nur als Luxusproblemchen gelten würden. Aber sie leidet. Und kommt mir beim Lesen genauso nah, wie die kleine Velvet, die ihr Glück bei der wilden, misshandelten Stute sucht.

Nach 40 Jahren Pferdebuch-Abstinenz ist Mary Gaitskills Roman ein großer Glücksfall für mich. Das Buch ist athmosphärisch sehr dicht und umgab mich beim Lesen tatsächlich mit einem vertrauten Stallgeruch. Kleine Mädchen und große Pferde, dampfender Mist und wirbelnder Sand ergeben dank Mary Gaitskill einen großen Roman, lesenswert auch für Menschen, die ihre Kindheit nicht in riechenden Reitställen verbracht haben.

Abbildung: Rechte beim Verlag

Zum Buch:

Mary Gaitskill:

Die Stute.

Aus dem Englischen von Barbara Heller und Rudolf Sorge

Klett-Cotta, Stuttgart, 2017

ISBN: 978-3-608–98109-4