Über Siegfried Lenz‘ Kindererzählung „Marvellas ganze Freude“

 Liebe kennt keine Bahnschranken

Marvella ist eine braune Schweizer Kuh und der Star in Siegfried Lenz bisher unveröffentlichter Kindergeschichte. Eigentlich ist Marvella ja eine ganz normale Kuh, die ihr Leben auf einer Weide in Kansas, USA – liebevoll umsorgt – bei ihrem Besitzer Bauer Bollmann verbringt. Eigentlich. Aber Marvella hegt eine ganz besondere Vorliebe: Nämlich die für den Güterzug Nummer 10, der jeden Morgen und jeden Abend an ihrer Weide vorbeifährt. Sein langezogenes „Tuuut“ beantwortet die braune Schönheit mit einem ebenso expressiven „Muuuh“ (was morgens „Guten Morgen“ und abends „Guten Abend“ bedeutet). Erst nach diesem allmorgendlichen Zeremoniell wendet sich die aparte Exilschweizerin dem zu, was man von Kühen so erwartet: „zartes Gras zu fressen, kühles Wasser aus dem Bach zu trinken und in dem angenehmen Schatten der Ulme auszuruhen.“

Dieses perfekte Kuhleben lebt Marvella so vor sich hin, bis ein fürchterlicher Wirbelsturm -und die damit verbundene Störung des Zugverkehrs – ihren Tagesablauf gründlich durcheinanderwirbelt.

Es ist schön, dass Siegfried Lenz Marvella-Geschichte nun den Weg zu ihren kleinen (und großen) Leserinnen und Lesern gefunden hat. Der Text ist voller Empathie für ein Tier, das in der industriellen Massentierhaltung weiß Gott nichts zu lachen hat. Kindern wird die Milchkuh, der die Erwachsenenwelt meist nicht allzugroße geistige Eigenständigkeit zubilligt, mit ihrer störrisch-sympathischen Art ans Herz wachsen und den meisten Erwachsenen – so hoffe ich – ebenfalls.

In einer ruhigen und unspektakulären Sprache feiert Siegfried Lenz auch die Freuden des Alltäglichen und die Annehmlichkeiten eines unverrückbaren Tagesablaufs. Marvellas Geschichte ist eine Hommage an Rituale und alles andere als ein turbulenter Plot. Sie endet wie sie begonnen hat, nur das allen danach Marvella noch fester ans Herz gewachsen ist.

Ganz nebenbei lernen Kinder einen der großen deutschen Nachkriegsschriftssteller unverkrampft und abseits von Oberstufenpflichtlektüren kennen und vielleicht lieben. Marvellas große Freude ist übrigens nicht das einzige Kinderbuch von Siegfried Lenz. 1953 bereits erschien sein Kinderpferdebuch „Lotte soll nicht sterben“ und 1971 „So war das mit dem Zirkus“ (eine masurische Geschichte).

Dass sich das Buch nicht nur für Erstleser sondern auch die ganz Kleinen eignet verdankt es auch den teilweise ganzseitigen Illustrationen von Nikolaus Heidelbach. Die farbigen Abbildungen sind auf hohem zeichnerischen Niveau kindgerecht und geben das Marvella-Paradies und ihren gutmütigen Besitzer wunderbar wieder. Meinen Testzuhörerinnen hat vor allem der Lageplan in Vogelperspektive begeistert, der präzise und grafisch ansprechend Marvellas Welt von oben kartiert.

Neben allen Funktionären aus dem Bereich der industirellen Milcherzeugungswirtschaft, denen ich das Buch gerne auf die Nachttische zaubern würde, ist es für Erstleser zum Selbstlesen genauso gut geeignet wie zum Vorlesen für Kinder ab 3.


Beitragsbilder: Abbildung Cover: Rechte beim Verlag


Zum Buch:

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Siegfried Lenz:

Marvellas ganze Freude

Illustriert von Nikolaus Heidelbach

Hoffmann und Campe, Hamburg 2017

ISBN: 978-3-445-40621-4

44 Seiten, 18 Euro

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