Über Eva Menasses Erzählband: „Tiere für Fortgeschrittene.“

Umgekehrt fabuliert

menasse Tiere

Eigentlich ist es ganz einfach: Eine Fabel ist eine Erzählung, kurz und belehrend. Tiere haben menschliche Eigenschaften; können sprechen und agieren wie Menschen. Alles spitzt sich auf eine Schlusspointe zu, diese führt uns dann – mit Wilhelm Busch gesprochen – die „Moral von der Geschichte“ vor.

In Eva Menasses acht Erzählungen läuft alles irgendwie anders. Es handeln echte Menschen. Es gibt keine Schlusspointe und erst recht kein moralisches Sendungsbewusstsein. Ihre Erzählungen sind also keine Fabeln. Das könnte man so festhalten, gäbe es da nicht diese skurrilen kurzen Zeitungsmeldungen, die jeder Erzählung vorgeschaltet sind. Es geht da um die Wiederbelebung von Opossum und Hai, um Krokodils-Tränen, naschhafte Igel und schlafende Enten. Ein Sammelsurium unnützen Wissens und Nachrichten aus der Rubrik „Vermischtes“.

Beim Lesen kommt man also gar nicht umhin, Verbindung zwischen Kurzmeldung und Erzähltext zu suchen. Und da die Kurzmeldung aus der realen Lebenswirklichkeit (von Tieren) stammt und die Erzählung nun einmal eine Erzählung ist, und damit fiktiv, ist der Fabellogik entsprechend der Schluss zu ziehen, dass es bei Menasse umgekehrt zugeht, als bei Äsop und La Fontaine. Die Erzählungen sind Anti-Fabeln; Menschen handeln ähnlich wie die beschriebenen Tiere und alles hat – wenn schon keine moralische Schlussfolgerung – einen zielgerichteten Plot.

Menasse stellt ihren Erzählungen zwei Zitate vor, die in eine ähnliche Richtung weisen: Eines über die die Parallelen zwischen Natur und Kunst: „Beide waren eine Form der Magie“ (Nabokov) und eines aus dem Audioguide des Natural History Museums in London: „Um eine Spezies zu verstehen, braucht man mehrere Exemplare. Eines reicht nicht aus.“

Die Zitate helfen (mir), auf Menasses Spur zu kommen: Ich lese ihre Erzählungen wie die Berichte eines Naturforschers. Man möchte die Spezies Mensch verstehen und untersucht verschiedene Exemplare in unterschiedlichen Versuchsanordnungen. Die Experimente erfolgen in Analogie zu Verhaltensweisen anderer Spezies. Enten, Igel, Schmetterlinge und was Menasse als tierische Vergleichsgruppen sonst noch in Anschlag bringt. Egal an welcher Spezies man eine Verhaltensweise studiert, es ist immer lehrreich. Damit wären wir wieder bei Äsop und La Fontaine.

Nun aber der Vorrede genug und hin zu Menasses Erzählungen. Tom, die gut organisierte Patchwork-Mutter, trifft während ihres langweiligen Wasserrutschen-Türkei-Urlaubs einen traurigen alten Mann am All-Inclusive-Buffet und sucht ihn immer wieder, als hätte sie Sehnsucht nach seiner Traurigkeit. Menasse stellt der Geschichte ein Forschungsergebnis aus Puerto Rico voraus: Bienen und Schmetterlinge suchen sich Krokodile, um deren salzige Tränen aufzusaugen.

Konrad kümmert sich rührend um seine demente Ehefrau Grete. Bis zur Grenze seiner Belastbarkeit und darüber hinweg. Bis er selbst nicht mehr weiterkann. Die Geschichte endet gespenstisch. Konrad sitzt in seinem Keller und tippt Rilkes Herbstgedicht ein:

„Wir alle fallen. Diese Hand da fällt.

Und sieh dir andre an: es ist in allen.

Und doch ist einer, welcher dieses Fallen

Unendlich sanft in seinen Händen hält.“

Er entwirft an seinem Computer eine Todesanzeige. Menasse liefert als Vortext skurriles aus dem Insektenreich: „Tabakschwärmer schaufeln sich ungewollt selbst ihr Grab.“

In vielen Geschichten kommen Bezüge zum Tierreich vor. Vogelorchester, die auch für Atheisten als „Gottesbeweis“ dienen, Männer in Anzug und Krawatte, die termitengleich über Bürohochhäuser herfallen, ein Reh, das im Todeskampf die „himmlischen Scharen“ blickt. Mensch und Tier werden sich ähnlich, austauschbar. Das Eine steht für das Andere und vice versa.

Menasses Geschichten enden im Offenen, Ungewissen; meist bleibt eine böse Vorahnung, die sich schon beim Lesen der vorgeschalteten Nachrichten-Notiz einstellt. Die Erzählungen sind kunstvoll mit den Notizen verwoben, die Notizen geben Menasses Texten eine Richtung, in auf die sie sich mäandernd zubewegen. Einiges bleibt rätselhaft, die Autorin klärt ihre Pointen nicht auf. Formuliert keine „Moral von der Geschichte“, überlässt uns Lesern Fragmente, die wir selbst aneinanderfügen müssen. Damit eröffnet sie Raum für eigene Deutungen, eigene Schlussfolgerungen und – meinetwegen – eigene moralische Lehrsätze.

Dieses Verfahren mag sich schwierig anhören. Man sollte sich daher von der Last freimachen, unbedingt den einzig waren und richtigen Konnex zu finden. Ich bestreite, dass es ihn gibt. Liest man die Texte unverkrampft (wie ja auch die Lektüre einer Fabel bestenfalls stattfinden sollte), sind sie voll von leisem Humor, kluger Schlussfolgerungen und schönen Bilder.

Ganz en passant formuliert Eva Menasse treffende Erkenntnisse: Die oft schmerzhafte Ähnlichkeit von Kindern mit ihren Eltern bringt sie auf den entscheidenden Punkt: „Die Pubertätsrevolutionen sind nur Budenzauber, das eigentliche Erbe ist längst ins Knochenmark injiziert.“ Die große Frage nach der Ewigkeit bricht sie mit Humor: „Und das (=der Vogelgesang) würde immer so weitergehen, jeden Morgen dieser mächtige Gesang, auch noch in hunderttausend Jahren, wenn es nicht einmal mehr von ihren Zahnprothesen die leiseste Spur gäbe.“

Um zum Abschluss auf Nabokov zurück zu kommen: Natur und Kunst, „beide waren ein Spiel intrikater Bezauberung und Täuschung.“

Auf Eva Menasses Anti-Fabeln angewendet bedeutet dies: Sie täuschen und verwirren den Leser. Aber sie bezaubern ihn auch.


Beitragsbild: Rechte beim Verlag Kiepenheuer & Witsch


Zum Buch:

Eva Menasse: Tiere für Fortgeschrittene.

Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2017.

320 Seiten. 20 Euro.

ISBN 978-3-462-04791-2