Das Seelenleben der Kraken
Wer einmal gesehen hat, wie Fischer einen Oktopus zu Tode bringen (sie schlagen ihn an einem Felsen „weich“, damit sein Fleisch genießbarer ist), wird beim nächsten Restaurantbesuch überlegen, ob es tatsächlich Oktopus sein muss. Und: er wird Sy Montgomery für ihr Oktopus-Buch dankbar sein. Obwohl „nur“ ein wirbelloses Tier (zumindest in Deutschland gelten die Tierschutzgesetze nur für Wirbeltiere). Sy Montgomery zeigt die achtarmige Krake als ein faszinierendes Lebewesen mit vielen Fähigkeiten, Intelligenz, Gefühlen und einer Seele. Das Buch ist damit ein interessanter Ausflug in eine unbekannte und faszinierende Welt. Ein Plädoyer für ein unterschätztes Tier, das viele Menschen eher vom Teller als aus eigener Anschauung kennen.
Die Autorin macht sich auf die Suche „nach dem Verstand der Weichtiere“ und trifft im Bostoner Aquarium auf ihren ersten Tintenfisch: die Pazifische Riesenkrake Athena. Für Montgomery entwickelt sich aus diesem ersten Treffen eine Liebe auf den ersten Blick zum Oktopus. In Ihrem Buch „Rendezvous mit einem Oktopus“ widmet sich dieser geheimnisvollen Spezies. Die zahlreichen informativen Details verbindet sie mit der Schilderung ihres sehr persönlichen Zugangs zu diesem Tier. Da sie ihre Erfahrungen hauptsächlich aus zahlreichen Besuchen des New England Aquarium in Boston verdankt, erhascht auch der Leser einen Blick hinter die Kulissen eines Aquariums. Mir zumindest machte dies Appetit – nein nicht auf Fisch – sondern darauf, auch einmal wieder ein Aquarium aufzusuchen.
Vieles, was Montgomery zum Thema Oktopus aus wissenschaftlichen Untersuchungen zusammenträgt ist verblüffend: Die Kalifornische Zweipunktkrake ist beispielsweise in der Lage Werkzeuge zu verwenden. Ähnlich wie Hunde können Oktopusse erahnen, das Menschen etwas wissen, was sie nicht wissen: Sie folgen dem menschlichen Zeigefinger zu verborgenen Leckereien.
Ein umfangreiches Literaturverzeichnis verweist auf Fachliteratur, wissenschaftliche Aufsätze und Online-Quellen, die Autorin selbst sprach mit einigen Fachleuten (unter anderem des Middlebury Colleges in Vermont).
Montgomery betrachtet „ihre“ Oktopusse jedoch nicht allein durch die Brille des Wissenschaftlers. Sie nennt die Krake Oktavia eine „Tintenfisch-Madonna“ und berauscht sich an der Schönheit und Seelenhaftigkeit dieser Tiere. Die Verknüpfung wissenschaftlicher Inhalte und persönlicher Betrachtungen erscheint jedoch nicht immer gelungen. Wie bei us-amerikanischen Sachbüchern häufig ist auch beim „Rendezvous mit einem Oktopus“ für meinen Geschmack eines eine Spur zu euphorisch, gefühlig und menschelnd. So hat mich Montgomeries Bericht über eine Valentinstags-Veranstaltung in Seattle (zu der sie eigens anreiste) geradezu verstört:
der 12000-Liter-Tank des Tintenfisch-Aquariums wird dort alljährlich mit „herzförmigen roten Lämpchen dekoriert, leuchtend rote Plastik-Papierherzchen verzieren die Glaswände“.
Man erwartet ein Blind-Date zweier Kraken in der Hoffnung, dass die Zuschauerscharen die Tiere beim Sex beobachten können.
Gerade was die Begegnung mit Forschern und anderen Oktopus-Begeisterten betrifft, kommt Montgomery oft etwas vom Thema ab, wenn sie die persönlichen Biografien und Schicksale von Wissenschaftlern und Ehrenamtlern des Aquariums beschreibt. Hier wäre -zumindest für die Veröffentlichung auf dem deutschen Markt – sicher eine Straffung sinnvoll gewesen.
Ein weiteres Manko des Buches: Es gibt keine Abbildungen.
Mein persönliches Fazit:
Trotz der Kritikpunkte ist „Rendezvous mit einem Oktopus“ ein lesenswertes und nachdenklich machendes Buch. Es weckt Interesse (und Empathie) auch für die „niedrigsten“ Stufen im Tierreich. Bei mir zumindest – und das ist meine ganz persönliche Erkenntnis– wird nie wieder ein Oktopus auf dem Teller landen.
Zum Buch
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Sy Montgomery: Rendezvous mit einem Oktopus.
Extrem schlau und unglaublich empfindsam: Das erstaunliche Seelenleben der Kraken
Aus dem Englischen von Heide Sommer.
mare, Hamburg 2017
ISBN: 978-3-86648-265-4
336 Seiten, 28 Euro