„Selber lernen macht schlau“
„Ein Kind mit Namen Jule Janke
Sah eines Morgens, blaß vor Schreck,
Es warn in ihrem Bücherschranke
All die gelehrten Bücher weg.“
Jule steht nun mir nichts, dir nichts vor zwei Fragen: Was ist aus all ihren Büchern geworden? Was soll sie ohne ihre Bücher anfangen?
Das Kinderbuch über Jule Janke und eine bücherfressende Wanderratte hat Peter Hacks bereits zu Beginn der 80er Jahre veröffentlicht. Peter Hacks (1928-2003) war einer der bedeutendsten Dramatiker der DDR und einer der wenigen deutschen Bühnenautoren, deren Stücke sowohl in der DDR als auch in der BRD aufgeführt wurden.
Was er sich vor 35 Jahren in „Jules Ratte“ ersonnen hat, kann aus heutiger Sicht als prophetisch betrachtet werden: Eine Wanderratte ist diejenige, die Jules Bücherschrank leergefuttert hat. Die Ratte ist fortan „von Weisheit fett“ und verspricht Jule, die Bücher zu ersetzen. Jule macht die Ratte zu ihrem kleinen Assistenten. Sie hockt während der Hausaufgaben auf dem Schreibtisch und während des Unterrichts unter dem Pult. Das kommt uns bekannt vor? Natürlich: Jules belesene Wanderratte ist der (sympathische) Vorläufer der allgegenwärtigen Verfügbarkeit von Wissen via Internet. In Form des Smartphones in ähnlich handlicher Größe verfügbar, wie die intelligente Ratte.
Und wie es im Leben so ist, machen die Bequemlichkeiten des Fortschritts den Nutzer faul. Was heute mittels „copy and paste“ die Hausaufgaben und Referate vereinfacht, macht in Hacks‘ Lehrgedicht die Ratte: Während Jule ein Nachmittagsnickerchen hält, verfasst die Ratte „mit tintigem Schwanz“ die Hausaufgaben. Außerdem steht sie Jule in der Schule bei Klassenarbeiten und Diktaten zur Seite. Kompetent und diskret.
Nun ist eine Wanderratte – wie der Name es erahnen lässt – kein ortsgebundenes Tier. Plötzlich, wie sie gekommen ist, verlässt sie mit ihren Kameraden die Stadt wieder. Die erschrockene Jule findet nur eine kurze Nachricht: „Jetzt mußt Du wieder selber denken. Ergebenst, Piep.“
Aber Jule fasst sich. Gräbt sich in der Bibliothek in Bücherberge ein und lässt den eigenen Lockenkopf rauchen. Und was ist die Moral von der Geschichte?
„Nur eigen Weisheit macht den Weisen,
Ratgeber können mal verreisen.
Der kluge Freund läßt dich im Stich.
Dann fragst Du wen?
Dann fragst Du dich.“
Der Kinderbuchklassiker (in der ersten Auflage 1982 erschienen) wurde von Klaus Ensikat durchgängig mit seinen meisterhaften Zeichnungen kongenial illustriert. Ensikats Illustrationen zeichnen sich durch filigrane Linienführung und tonige Farbgebung aus. Humorvoll setzt Klaus Ensikat Peter Hacks‘ Verse um. Seine altmeisterliche Zeichentechnik und das nostalgische Setting der Interieurs und Straßenszenen wirken – auf originelle Art – wie aus der Zeit gefallen.
Ensikat wählt für seine Motive ungewohnte Perspektiven; gerne die Vogelperspektive, die den Betrachter fast schwindeln lässt. Wohnräume, Autos und Fassaden schneidet er immer wieder auf, so dass man hineinsehen kann. Er gibt Blicke frei auf Fußboden-Konstruktionen (in denen sich die Ratte verstecken kann), Heizungsrohre und Dachkammern. Auf den detailfreudigen Bildern gibt es viel zu entdecken. Seine Zeichnungen sind nie plump und plakativ sondern fein und spitzfindig. Zusammen mit den hintersinnigen Reimen von Peter Hack ergibt das Buch ein wohltuendes Gesamtbild der digitalen Vergangenheit. Für heutige, computerversierte Schulkinder ist das Buch ein spannender Blick zurück in eine Zeit ohne Internet, Whatsapp und Instagram.
Bei aller Nostalgie ist die Botschaft mehrfach tagesaktuell: „Selber lernen (und selber denken) macht schlau“. Das eigenständige Denken kann einem niemand abnehmen. Wer sich darauf verlässt, dass andere für einen denken (ob eine schlaue Ratte oder die Schwarmintelligenz von Wikipedia) könnte am Ende alt aussehen.
Das Buch eignet sich zum Selberlesen für Kinder von 6 bis 8 Jahren, zum Vorlesen für Kinder ab dem Vorschulalter.
Abbildung Cover: Rechte beim Eulenspiegel-Verlag
Beitragsbild: Gustave Corbét, Rat der Ratten
Zum Buch:
Peter Hacks (Text) und Klaus Ensikat (Illustration): Jules Ratte. Oder Selberlernen macht schlau.
Eulenspiegel Kinderbuchverlag, Berlin 2016.
28 Seiten, durchgängig illustriert. 14,99 Euro.
ISBN 978-3-359-0246-20
Danke für deine Rückmeldung. Es ist wirklich ein wunderbares, lustiges und nachdenkliches Buch. Für alle Fans des Zeichners Ensikat eigentlich ein „must have“.
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Interessantes Buch, tolle Rezension, danke dafür!
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